Auf Tour mit einem der letzten Schweizer Milchmänner
Auf Tour mit einem der letzten Schweizer Milchmänner
Ein Geschenk für den Milchmann
Der Milchmann ist da! Erwartungsvoll streckt Frau Brügger den Kopf aus dem Fenster. Kurz darauf steht die Seniorin vor dem Basler Mehrfamilienhaus in der Morgensonne und nimmt ihre Bestellung entgegen: wie immer Milch, Butter und Joghurt, dazu heute ausnahmsweise eine Schachtel Eier. "Ich will einen Birnenkuchen backen", erzählt sie. Zeit für einen kleinen Plausch mit Christoph Grossenbacher – die Enkel, der Herbst, das Geschäft. "Es ist schön, dass regelmässig jemand vorbeikommt", sagt die 83-Jährige. Wie dankbar sie für seine Besuche ist, zeigte Frau Brügger "ihrem" Milchmann auf ganz besondere Weise: Sie schenkte ihm vor einiger Zeit das Auto ihres mittlerweile verstorbenen Mannes, als dieser nicht mehr fahren konnte. Ein grosses Geschenk für kleine Gesten.
Der Milchmann als soziale Institution
Denn Grossenbacher bringt viel mehr als nur Lebensmittel. "Ich nehme mir auch immer Zeit für einen Schwatz mit meinen Kundinnen und Kunden – ganz nach alter Berufsmanier." Der Mann mit der Milch im Gepäck und seiner herzlichen, aber zurückhaltenden Art ist auch ein wenig eine soziale Institution.
Ein aussterbender Traditionsberuf
Vor der Verbreitung von Kühlschränken und der Pasteurisierung verdarb Milch schnell. Deshalb lieferten Milchmänner – oder auch Milchfrauen – den Leuten die frische Milch frühmorgens im Milchkesseli an. Mit der Verbreitung der Pastmilch in den 1960er-Jahren verschwanden Milchmänner immer mehr. In der Schweiz ist der Beruf heute vom Aussterben bedroht, zumal Grossverteiler vermehrt auch Heimlieferungen anbieten. Ein ähnliches Bild zeigt sich etwa in Grossbritannien. In den USA hingegen bieten Molkereien vermehrt wieder Milchlieferungen an; die Milch kommt dabei häufig in Glasflaschen. Und in Indien ist der Milchmannberuf noch heute weitverbreitet.
250 bis 300 Liter Milch pro Woche
Christoph Grossenbacher ist einer der letzten Milchmänner der Schweiz. 700 Kilometer legt der 57-Jährige pro Woche mit seinem Transporter zurück. Dabei beliefert er ganz Basel-Stadt mit Milch, Butter, Käse, Joghurt, Eiern und Mineralwasser. Vollkommen originalgetreu arbeitet der Basler Milchmaa allerdings nicht: Aus hygienischen Gründen kommt seine Milch in Kartons statt direkt aus dem Kesseli. "Dafür stammen meine Produkte aus der Region, darauf legen die Leute Wert." Grossenbachers Spezialität: die Wiesenmilch der Miba Genossenschaft. "Diese Milch wird extra für mich abgefüllt", sagt Grossenbacher, "ich bin der Einzige, der sie verkauft." Pro Woche benötigt er rund 60 Liter davon. Insgesamt liefert Grossenbacher wöchentlich 250 bis 300 Liter Milch aus.
Wiesenmilch, wie bitte?
Wiesenmilch stammt von Kühen, die mehrheitlich Heu und Gras fressen und sich regelmässig draussen auf der Weide aufhalten. Die Wiesenmilch der Nordwestschweizer Milchproduzentinnen und -produzenten Miba, die der Basler Milchmaa vertreibt, trägt das Naturlabel IP-Suisse.
"Manche Leute erzählen mir ihre ganze Lebensgeschichte."
Gartentipps vom Milchlieferanten
Wie seine Kundinnen und Kunden schätzt dabei auch der Milchmann selbst die "persönliche Tour". "Manche Leute erzählen mir ihre ganze Lebensgeschichte", sagt Grossenbacher und streicht seinen Pullover mit dem Milch-Logo glatt. Was er an seinem Beruf noch mag: "Die Selbstständigkeit! Ich bin keinem Arbeitgeber Rechenschaft schuldig." Früher war der gebürtige Riehener Angestellter und arbeitete als Landschaftsgärtner. Als der örtliche Milchmann in Pension ging, ergriff Grossenbacher die Gelegenheit und übernahm kurzerhand das Geschäft. Er weiss es auf den Tag genau: "Seit dem 1. August 2009 bin ich Milchmann." Sein Garten-Know-how kann Grossenbacher dennoch hin und wieder anwenden. "Eine langjährige Kundin etwa bittet mich regelmässig in den Garten und will zum Beispiel wissen, ob ihr Gärtner den Lorbeer auch richtig geschnitten hat", sagt er und lacht.
Den Milchmann richtig vermisst
Erst seit Kurzem in Christoph Grossenbachers Kundenkartei ist die Familie Villiger, die nächste "Station" auf der heutigen Milchtour, gleich zwei Häuser weiter von Frau Brügger. "Wir lieben Milch und haben sogar beim Fernsehschauen immer einen Karton in Reichweite", sagt Kathrin Villiger und strahlt. Da sie kein Auto fährt, ist die zweifache Mutter heilfroh, dass der Milchmann ihr den schweren Transport abnimmt. "Als Herr Grossenbacher kürzlich drei Wochen weg war und keine Lieferung kam, habe ich ihn schmerzlich vermisst."
Wochentags früh raus, am Wochenende Buchhaltung
Und schon sitzt der Basler Milchmaa wieder startklar hinter dem Steuer – Zeit für lange Pausen hat er nicht: Von morgens um 6 bis nachmittags um 3 Uhr heisst es pünktlich sein. Montags und donnerstags steht zudem vor Tourbeginn noch der Einkauf der Lebensmittel auf dem Programm. "Und am Wochenende mache ich die Buchhaltung." 140 Kundinnen und Kunden beliefert Grossenbacher, während der Pandemie erhielt er Zuwachs. "Ich bin froh, denn mein Geschäft läuft über die Menge. Nur so kann ich meine Preise trotz steigender Kosten für Benzin und Lebensmittelkühlung tief halten."
Ferien kann sich der Einmannbetrieb kaum leisten.
Reich wird der Milchmann mit seinem Beruf aber nicht; Ferien zum Beispiel liegen kaum drin. "Ausserdem kann ich es mir nicht leisten, wegen Abwesenheit Kundschaft zu verlieren", so der Einmannunternehmer. Kürzlich fehlte Grossenbacher dennoch für drei Wochen: Er musste sich an der Schulter operieren lassen – seine erste Pause seit 13 Jahren. Bei der Rückkehr des Milchmanns war die Freude gross. "Das war vielleicht ein Theater", sagt er und lächelt bescheiden.
"Ich rege mich nicht mehr auf."
Um noch möglichst lange für die Basler Milchfans da zu sein, achtet der Milchmaa penibel auf seine Gesundheit. "Ich rege mich zum Beispiel nicht mehr auf", sagt Grossenbacher, als sich beim Aufbruch bei den Villigers ein Auto an ihm vorbeidrängelt. "Das ist schlecht fürs Herz." Zudem hat er seinen Kaffeekonsum zurückgeschraubt: von vier auf zwei Tassen pro Tag. Diese lässt er sich aber schmecken – mit Miba-Wiesenmilch, versteht sich.