"Überbleibsel" Molke: Power für Sportskanonen

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"Überbleibsel" Molke: Power für Sportskanonen

Molke enthält hochwertige Proteine – und ist in grossen Mengen vorhanden. Dennoch findet sie in der Lebensmittelproduktion noch kaum Verwendung. Ein Start-up-Unternehmen will dies ändern.

Aus kleinen Würfeln entsteht Appenzeller

Der süss-säuerliche Geruch dringt beim Eintreten sofort in die Nase. Typisch Chäsi! Alois "Wisi" Pfister dürfte sich längst an ihn gewöhnt haben – in der Erlebniskäserei in Goldingen (SG) ist der Käsermeister praktisch aufgewachsen. Schon sein Urgrossvater hatte hier einst Käse hergestellt. Über ein Jahrhundert später leitet "Wisi" die Käserei in vierter Generation und bildet zugleich zukünftige Milchtechnologen – so die offizielle Berufsbezeichnung – aus.

Einer von ihnen ist Kevin. Mit einer grossen Käseharfe aus Edelstahl fährt der Lehrling an diesem Mittwochmorgen mit regelmässigen Bewegungen durch die eingedickte Milch im grossen Kupferkessel. Allmählich bilden sich kleine Würfel, der Käsebruch. Am Ende wird aus diesen auch "Körner" genannten Stückchen erstklassiger Appenzeller. Aber nicht nur.

Lehrling Kevin in der Erlebniskäserei in Goldingen (SG)
Lehrling Kevin in der Erlebniskäserei in Goldingen (SG)

Von Ricotta bis Rivella

Durch Kevins "Harfen" entsteht gleichzeitig Molke – jene grünlich-gelbe Flüssigkeit, die nach der Gerinnung von Milch zu Käse übrigbleibt. Was nicht heissen soll, dass die Molke fortan überflüssig wäre: Aus ihr lässt sich feiner Ricotta oder Zigerkäse machen oder Salatsauce und Mayonnaise. Rivella hat auf der Basis von Milchserum, das aus Molke gewonnen wird, ein Nationalgetränk erschaffen. Und ein Schweizer Kosmetikhersteller recycelt Molke gar für Hand- und Körpercrèmes.

Aus der eingedickten Milch (l.) entstehen Käse und Molke.
Aus der eingedickten Milch (l.) entstehen Käse und Molke.

Bloss rund ein Viertel der gesamten Schweizer Molke fliesst zurück in die Lebensmittelherstellung.

Doris Erne, Geschäftsführerin Lokalgenuss AG

Vielseitig und gesund

Dass sie derart vielseitig ist, hat die Molke ihren diversen Vitaminen, wichtigen Mineralstoffen wie Kalzium, Eisen und Zink sowie dem geringen Fett- und Kaloriengehalt zu verdanken. Schon im 18. Jahrhundert galt Molke in der Schweiz als Diätmittel – sogar heilende Kräfte schrieb man ihr zu. Fortan erfreuten sich sogenannte Molkekuren grosser Beliebtheit.

Ein Blick in die Käseproduktion in Goldingen (SG)

Ein Blick in die Käseproduktion in Goldingen (SG)

Das Protein nutzen

Was Molke ebenfalls auszeichnet: ihr Protein. Ein Nährstoff, der im menschlichen Körper eine Vielzahl an Aufgaben erfüllt, z. B. den Aufbau und die Erneuerung der Körperzellen. Eiweiss spielt beim Muskelaufbau eine entscheidende Rolle, weswegen Profisportler:innen auf eine proteinreiche Ernährung angewiesen sind. Welche Rolle kann Molke dabei einnehmen?

Diese Frage haben sich Doris Erne (42) und Christian Studer (43) schon vor rund sechs Jahren gestellt. Zu jener Zeit griffen die beiden Hobbysportler:innen aus Jona (SG) jeweils zu herkömmlichen Proteinprodukten, um fit für die nächste Crossfit-Trainingseinheit oder Mountainbike-Tour zu sein. Weil Doris hauptberuflich in der Lebensmittelbranche tätig war, wusste sie allerdings: "Oft enthalten solche Produkte fragliche Konservierungs- oder Süssstoffe."

Sporternährung

Muskelaufbau: Deshalb ist Milcheiweiss so effektiv.

Stolze Protein-Pioniere: Doris Erne und Christian Studer
Stolze Protein-Pioniere: Doris Erne und Christian Studer

"Wheycation": Molke als Basis aller Produkte

Internationale Hersteller setzen meist nicht auf Regionalität – vorausgesetzt, man erkennt anhand der Zutatenliste überhaupt, woher die Inhaltsstoffe stammen. So begannen Doris und Christian nach einer Alternative zu suchen, um ihre "sportlichen" Bedürfnisse abzudecken. Eine Alternative, die gesünder ist und auch feiner schmeckt. Und die möglichst lokale und bioverträgliche Zutaten beinhaltet. Wie eben Molke.

Mittlerweile können die beiden mit Stolz sagen: Sie sind fündig geworden. Unter der Marke "Wheycation" stellt ihre Firma Lokalgenuss AG Proteinpulver und Haferbrei in diversen Aromen für Sportbegeisterte her. Wie der Name verrät, ist Molke – auf Englisch "Whey" – die Basis all ihrer Produkte. Und diese stammt vollumfänglich aus Schweizer Käsereien.

Proteinpulver und Haferbrei in diversen Aromen.
Proteinpulver und Haferbrei in diversen Aromen.

Potenzial wird nicht ausgeschöpft

"Von den rund 1,3 Millionen Tonnen Molke, die hierzulande jährlich anfallen, wird ein Grossteil in der Schweinemast verfüttert", erklärt Geschäftsführerin Doris am Firmensitz in Jona. "Zurück in die Lebensmittelherstellung fliesst hingegen bloss rund ein Viertel." Mit anderen Worten: Dieses gesunde "Überbleibsel" der Käseproduktion kann sein volles Potenzial bei Weitem nicht ausschöpfen.

"Hier setzt unsere Vision an", ergänzt Christian. "Durch eine effiziente Weiterverwendung von Schweizer Molke möchten wir unseren Beitrag zu einer nachhaltigen Lebensmittelproduktion leisten." Hierfür spannen er und seine Lebensgefährtin Doris mit mehreren Nahrungsmittelproduzenten zusammen, welche die ihnen zugelieferte Molke verarbeiten. Daraus entstehen dann drei verschiedene "Wheycation"-Produktelinien mit unterschiedlicher Nährstoffzusammensetzung: je eine für vor, während und nach dem Sport.

"No Food Waste" zu Hause: So nutzt du jeden Tropfen Milch.

  • Kaufe Milchprodukte in Mengen, die du realistisch in absehbarer Zeit verwenden kannst
  • Lagere Milch richtig, um ihre Haltbarkeit zu verlängern: im Kühlschrank bei etwa 4°C. Und verwende sie, bevor sie abläuft
  • Nutze Milch für Milchkaffee, Smoothies oder Milchshakes
  • Verwende Milch in Rezepten für Suppen, Saucen, Brote oder Kuchen
  • Und natürlich: Achte darauf, Milchverpackungen korrekt zu recyceln

Tüftelarbeit

Um die Nährstoffe für ihre Protein-Shakes und Haferbreie optimal auf Sportlerbedürfnisse abzustimmen, tüfteln Doris und Christian regelmässig in ihrer eigenen Küche. Doris erklärt: "Nur so verhelfen unsere Produkte zu möglichst effizientem Training." Sie löffelt mehrere pulvrige Zutaten aus runden, durchsichtigen Plastikbehältern in einen Becher und mischt Wasser dazu. "Und natürlich soll das Ganze auch fein schmecken." Sie nimmt einen Schluck – allem Anschein nach tut es das.

Tüfteln in der eigenen Küche
Tüfteln in der eigenen Küche

Für Artenschutz und faire Löhne in Uganda

Das Proteinpulver kommt in den drei Aromen Erdbeere, Kakao und Vanille – dem persönlichen Favoriten der beiden – daher. Die Vanilleschoten kaufen Doris und Christian bewusst in Uganda ein, und zwar bei der Schweizer Fairtrade-Firma Vanilla Dream. Diese stellt sicher, dass die Vanille-Bauern im ostafrikanischen Land gerechte Löhne erhalten. "Ausserdem fliesst ein Teil der Einnahmen in den Schutz von dort heimischen Berggorillas", erklärt Christian.

Obendrein spenden sie ein Prozent der Einnahmen aus dem "Wheycation"-Online-Shop an Organisationen, die sich hierzulande für eine kreislauffähige Lebensmittelwirtschaft einsetzen. Denn genau da hapert es noch, wie Doris schildert: "Die Strukturen in der Schweizer Milch- und Käsebranche sind dezentral. Um effizient zusammenzuarbeiten und Lücken in der Nutzung zu schliessen, braucht es zusätzliche Unterstützung."

 

Christian in seinem Büro in Jona (SG)

Christian in seinem Büro in Jona (SG)

Was ist Kreislaufwirtschaft?

Unter Kreislaufwirtschaft versteht man ein Modell, das darauf abzielt, Ressourcen effizient zu nutzen, indem Materialien und Produkte so lange wie möglich im Wirtschaftskreislauf gehalten werden. Im Kontext der Lebensmittelwirtschaft bedeutet das unter anderem, dass möglichst keine Abfälle entstehen und auch Nebenprodukte genutzt werden. Das reduziert die Umweltbelastung und fördert die Nachhaltigkeit.

Am gleichen Strick ziehen

Doris und Christian wünschen sich beide, dass bei der Weiterverwendung der Molke die riesige Nachfrage nach Proteinprodukten stärker beachtet würde. "Wenn von den Käseproduzenten bis hin zu den Einzelhändlern alle am gleichen Strick ziehen, könnte man Kreisläufe schliessen und Food Waste eindämmen", ist sich Doris sicher. "Und das Beste daran: Man hat ein nachhaltiges und regionales Produkt."

Lokalgenuss AG/Wheycation

Das Start-up-Unternehmen Lokalgenuss AG mit Sitz in Jona wurde im Sommer 2018 von Doris Erne und Christian Studer gegründet und produziert Proteinpulver und -haferbrei. Die hierfür verwendete Molke stammt ausschliesslich aus schweizerischer Käseproduktion. Die "Wheycation"-Produkte entstehen in Zusammenarbeit mit diversen Schweizer Nahrungsmittelherstellern.