"Stadtwirtschaft": urbanes Käsen, Pflanzen und Ernten

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Gschicht vo hie

"Stadtwirtschaft": urbanes Käsen, Pflanzen und Ernten

Landwirtschaft in der Stadt: ein Widerspruch? Unser Podcast zeigt, dass das sehr wohl geht – trotz unterschiedlicher Herausforderungen. Warum das sogar besonders nachhaltig sein kann, liest du in der Story.

Die Dorfchäsi in der Stadt

Die Trillerpfeife des Kondukteurs schrillt, ein paar letzte Pendler setzen zum Laufschritt an, um den Interregio nicht zu verpassen. Eine Stimme aus dem Lautsprecher betet die nächsten Zugverbindungen herunter. Donnerstagvormittag am Zürcher Hauptbahnhof: Alltagstreiben mitten in der grössten Schweizer Stadt, weit weg von ländlicher Ruhe. Und doch braucht es für ein bisschen Landfeeling keine lange Zugfahrt.

Dörfliche Idylle am Hauptbahnhof

Nur wenige Meter weiter, direkt am Gleis 18, befindet sich die Stadtkäserei Zürich. Hier hat Inhaberin Simone Müller-Staubli vor vier Jahren ein Stück dörfliche Idylle entstehen lassen, umgeben von Trams und Baustellen. Ein bewusster Entscheid, wie sie sagt: "Wir wollten das Konzept der klassischen Dorfchäsi in die Stadt hineintragen – und gleichzeitig etwas Neues ausprobieren."

Simone Müller-Staubli vor der Stadtkäserei Zürich

Simone Müller-Staubli vor der Stadtkäserei Zürich

Käser-Handwerk trifft urbane Kreativität

So gehören zu dieser besonderen Käserei nicht nur Chessi und Keller, sondern auch ein modernes Restaurant mit drei Küchen. Hier kommen traditionelles Käser-Handwerk und urbane Kreativität zusammen. Vom Frischkäseschaum auf der Pastinakensuppe bis zum Ricotta im Vanillemousse: Die Milchprodukte auf der Speisekarte stammen aus eigener Produktion.

Im Restaurant kommen hauseigene Milchprodukte auf den Tisch.
Im Restaurant kommen hauseigene Milchprodukte auf den Tisch.

Aus Milch wird Limo.

Die Stadtkäserei verfolgt eine klare Vision: Kein einziger Tropfen Milch wird verschwendet. "Aus zehn Litern Milch entsteht nur ein Kilogramm Käse. Das heisst, es bleibt eine Menge Molke übrig. Wir haben uns gefragt: Wie können wir den Rest verwerten?" Simone und ihr Team probierten vieles aus und scheuten sich nicht vor Experimenten – mit Erfolg.

Wir wollten etwas Neues ausprobieren und das Konzept der klassischen Dorfchäsi in die Stadt hineintragen.

Simone Müller-Staubli, Inhaberin Stadtkäserei Zürich

Eigene Prinzipien umsetzen

"Mit der Restmolke machen wir nun Mayo, Salatsaucen, Cocktails oder Limonaden. Diese werden bei uns im Restaurant und an der Bar serviert." Die Themen Food Waste und Nachhaltigkeit lägen den Angestellten der Zürcher Stadtkäserei am Herzen. Die eigenen Prinzipien konsequent umzusetzen, sei allerdings nicht einfach, gesteht Simone.

Ein Blick ins Restaurant der Stadtkäserei

Ein Blick ins Restaurant der Stadtkäserei

Milchprodukte

Sieben Fakten über Molke

Käse mit überraschenden Zutaten

Die Milch bezieht die Stadtkäserei von zwei Milchbauern aus der Region – wie das auch auf dem Land gang und gäbe ist. Die Anlieferung gestalte sich allerdings nicht ganz so einfach, erklärt Simone. Nicht nur, weil sich die Käserei mitten in Zürich zwischen Rangiergleisen und grossen Gebäudekomplexen befindet: "Wir haben keine Schläuche, mit denen wir die Milch aus den Fässern zu uns hineinpumpen könnten." Also heisst es: Kannen selber füllen und hineintragen. "Das erfordert Kraft und zusätzliche Zeit."

Eigenkreation aus der Werkstatt

Das Käser-Duo der Stadtkäserei lässt sich davon nicht entmutigen. Im Gegenteil: Dass Olga Voytenko und Lukas Peter ihr Handwerk mit Leidenschaft betreiben, ist an diesem Donnerstagmorgen augenscheinlich. Bereits seit sieben Uhr stehen sie in ihrer "Werkstatt" und sind mit Elan bei der Sache. Lukas füllt gerade eine krümelige Milchmasse in joghurtbechergrosse Förmchen. Eine Eigenkreation mit einer unerwarteten Zutat: Baumnüsse.

Simone Müller-Staubli, Olga Voytenko und Lukas Peter

Simone Müller-Staubli, Olga Voytenko und Lukas Peter

Ein Stück Heimatgefühl auf dem Teller

"Einer unserer Milchlieferanten hat grosse Mengen Baumnüsse bei sich auf dem Hof", erzählt Lukas. "Er fragte uns, ob wir diese auch brauchen könnten." Also hat die Stadtkäserei kurzerhand einen neuen Weichkäse kreiert. "Das zeichnet uns aus: unsere Offenheit für Neues und Fremdes", erklärt Lukas, während er die nächste Aufgabe anpackt. Er rührt das, was später zu Mozzarella werden wird, in einem Kessel umher.

Ukrainisches Rezept mit Schweizer Milch

Fremdes – damit meint er aber nicht unbedingt den italienischen Käseklassiker, sondern "Tworog". Das ist Olgas Spezialität: Diesen leicht sauren Frischkäse produziert die Ukrainerin vor allem für ihre Landsleute, die ebenfalls in der Schweiz wohnen. Den "Tworog" können sie gleich bei ihr bestellen und sich so ein Stück Heimatgefühl auf den Teller holen.

Das zeichnet uns ein Stück weit auch aus: unsere Offenheit für Neues und Fremdes.

Lukas Peter, Käser
Lukas Peter bei der Zubereitung des Baumnuss-Weichkäses
Lukas Peter bei der Zubereitung des Baumnuss-Weichkäses

Es begann einst im Tessin.

Neue Käse-Rezepte sind in der Stadtkäserei immer willkommen. Wobei ein Käse nicht mit dem Rezept stehe und falle, wie Lukas findet: "Letzten Endes kommt es auf die Käserinnen und Käser selbst an. Wie setzen sie das Rezept um?" Etwas mehr Säure hier, etwas weniger Temperatur da – oder umgekehrt: Vermeintliche Details sind entscheidend für Geschmack und Konsistenz des fertigen Produkts.

Der italienische Klassiker schlechthin: frisch gemachter Mozzarella.

Der italienische Klassiker schlechthin: frisch gemachter Mozzarella.

Philosoph und Milchtechnologe

Lukas selbst hat diese handwerklichen Aspekte schon vor zwanzig Jahren erlernt, nach Abschluss der Matura zuerst auf einer Tessiner Ziegenalp, danach auf einer Kuhalp im Obergoms. Obschon er anschliessend Philosophie studierte und promovierte, liess ihn die Liebe zum Käse nicht los. Schliesslich absolvierte er eine Lehre als Milchtechnologe bei Käsermeister Willi Schmid im Toggenburg – "einer der Allerbesten seines Fachs", schwärmt Lukas.

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Zu Besuch bei "Käseflüsterer" Willi Schmid

Städterinnen und Städter sind begeistert.

Und nun gibt er sein Wissen selbst an andere weiter: Für Gruppen bietet die Stadtkäserei verschiedene Käse-Workshops an. Lukas zeigt dabei nicht nur, wie ein Käse entsteht. Die Teilnehmenden produzieren Schritt für Schritt ihren eigenen. "Das Angebot wird rege genutzt", sagt Inhaberin Simone, häufig auch von Stadtzürcherinnen und -zürchern. Das zeige ihr, dass die Faszination Käse nicht bloss eine "ländliche" sei.

Lukas Peter im Keller und am Chessi
Lukas Peter im Keller und am Chessi

Naturgefühl neben dem Hauptbahnhof

"Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben eine riesige Freude und sind richtig stolz, wenn sie ihren eigenen Käse mit nach Hause nehmen. Eben gerade, weil das in einer Grossstadt sonst nicht möglich ist." Diese bewusste Verbindung zu Natur, Landwirtschaft und Handwerk – das ist es, was die Workshops den Städterinnen und Städtern bieten. In Zürich braucht es dazu nicht mal Weiden, Stallduft und Kuhgebimmel. Es funktioniert auch gleich neben dem Hauptbahnhof.

Die Stadtkäserei Zürich

Die Stadtkäserei Zürich an der Zollstrasse 37, gleich neben dem Hauptbahnhof, wurde 2019 eröffnet. Sie beherbergt neben der Käserei ein Restaurant, das montags bis samstags geöffnet ist, und beschäftigt insgesamt 15 Leute. Zwei von ihnen arbeiten Teilzeit in der Käseproduktion. Zusätzlich bietet die Stadtkäserei diverse Käse- und Kochworkshops für Interessierte an.

Die Stadtkäserei Zürich an der Zollstrasse

Die Stadtkäserei Zürich an der Zollstrasse