Die Wildheuer von Silenen: "Chrampfen" am Steilhang
Die Wildheuer von Silenen: "Chrampfen" am Steilhang
Hoch oben auf dem Berg…
Es ist ein stahlblauer Tag, der Chli Windgällen türmt sich hoch über der Urner Gemeinde Silenen. Die Reise startet an der Talstation Chilcherberge, von wo uns das luftige Bähnli auf 1100 Meter über Meer befördert. An der Bergstation erwartet uns Roman Epp (29), Landwirt und Wildheuer. Er führt uns leichten Schrittes durch einen stetig ansteigenden Waldweg und einem imposanten Felsband entlang hinauf zur Plangge Römersbalmen: So nennen die Wildheuer das Wiesland, das für die Tiere zu steil zum Beweiden ist. Seit vielen Jahren bewirtschaften Epps den Hang auf 1900 Metern über Meer. Ein grosses Stück Land ist bereits gemäht und das Gras trocknet in der Sonne. Der feine Duft von Alpenkräutern liegt in der Luft, Schmetterlinge tanzen.
Man könnte Tee daraus machen, so würzig ist das Heu.
Als Teenager zum ersten Mal dabei
"Wir sind schon seit drei Tagen hier oben", sagt Roman Epp. Wir, das sind er, sein Vater Paul und seine Onkel Robi und Beni. Ebenfalls dabei ist Edy Epp (44), der Pächter der Plangge, dessen Jagdpartnerin Simone und ihr Vater Martin. Sie wohnen während des Heuet in zwei kleinen Holzhütten im Schutz der Felswand. Roman Epp war 14-jährig, als er zum ersten Mal mitkam zum Wildheuen. Sein Vater Paul (71) lacht: "Du hattest gar keine Freude. Es war dir viel zu steil." Inzwischen ist Roman selbst begeisterter Wildheuer und hat den Hof seines Vaters übernommen.
Knochenjob mit Sense und Mäher
Es ist Mittagszeit auf Römersbalmen. Im winzigen Hüttchen hat Beni Epp auf dem Holzherd eine grosse Schüssel Älplermagronen mit Zwiebelschwitze zubereitet. Der aromatische Duft nach Käse, Rahm und Zwiebeln lockt die Helfer:innen an den Tisch. Der Zmittag auf den warmen Holzbänken ist der Höhepunkt des Tages und gibt Kraft für die harte Arbeit. Denn Wildheuen ist ein Knochenjob – allem voran das Mähen. Dafür sind Roman und Edy Epp zuständig. "Wir begannen gestern um 7 Uhr morgens und machten um 21.30 Uhr Schluss", sagt Edy Epp. Sie benutzen eine spezielle Mähmaschine mit breiten, spitzenbesetzten Metallrädern. Diese krallen sich in den Hang und halten die Maschine auch in Schräglage stabil. Die "Blätze" um die Steine und an unwegsamen Stellen mäht Roman Epp noch ganz klassisch mit der Sense. Alle drei bis vier Meter muss er die geschwungene Klinge mit einem Wetzstein schärfen. Die Arbeit im steilen Gelände ist beschwerlich und duldet keinen Fehltritt: Die Wildheuer:innen tragen deshalb feste Alpinwanderschuhe mit metallenen Zacken am Rand.
Wildheuen für Anfänger:innen
Jede helfende Hand ist willkommen!
Nach den Älplermagronen, Sirup und einem stärkenden Kaffee heisst es wieder Gabeln fassen: Das geschnittene Gras muss gewendet werden, damit auch die andere Seite schön trocknet. In der Nacht hat es geregnet, der Boden ist immer noch feucht. Roman Epp ist zuversichtlich: "Ich hoffe, dass es bis am späten Nachmittag trocken ist." Das Heuwenden lässt die Armmuskeln brennen, die Wiese scheint endlos. Langsam und stetig arbeiten sich die Wildheuer voran. Heute haben sie für einmal Unterstützung: Eine Gruppe Zivilschützer ist zu ihnen heraufgekraxelt und hilft wacker mit.
Netze bis zu einer Tonne schwer
Der Nachmittag war sonnig und leicht windig – ideale Bedingungen für das Heu. "Es chlotteret scho hibsch", sagt Edy Epp. Mit anderen Worten: Die Ernte ist trocken. Riesige Netze werden auf dem Boden ausgebreitet. Mit Rechen raffen die Helfer das Heu zusammen und türmen es in den Netzen zu Bergen auf. Sie pressen die Halme zusammen und klinken die vier Ecken des Netzes in der Mitte zusammen, sodass ein riesiges Bündel entsteht. Ein Netz mit Ladung wiegt meist rund 800 Kilogramm, kann aber auch bis zu einer Tonne schwer werden. Der Helikopter fliegt die Ballen ins Tal, zur Scheune von Roman Epp. Rund fünfzehn Ballen Heu erwirtschaften die Wildheuer:innen während einer Woche im Hang. Roman Epp nutzt es als Winterfutter für sein Jungvieh. "Für meine sieben bis acht Jungtiere reicht das etwa zweieinhalb Monate", sagt er. Das Wildheu ist von bester Qualität und besonders nährstoffreich, weil es eine Vielzahl unterschiedlicher Wildkräuter enthält. "Man könnte Tee daraus machen, so würzig ist es", lacht Roman Epp.
Wildheuen fördert Pflanzenvielfalt
Die Plangge Römersbalmen ist besonders artenreich: Nicht nur seltene Blumen wie Türkenbund, Bockskraut und Enzian wachsen hier. Auch für Wildbienen, Käfer und Schmetterlinge ist die Magerwiese ein Paradies. Dass all die Pflanzen und Tiere gedeihen können, ist nur dank der Bewirtschaftung durch die Wildheuer möglich. Würde man die Wiese sich selbst überlassen, würde das lange Gras jeweils auf der Wiese verrotten und sie düngen. Einige wenige fette Pflanzen würden dominieren, viele genügsamere würden verdrängt. Büsche und Bäume würden die Wiese überwuchern.
Schutz vor Erdrutschen und Lawinen
Das Wildheuen bietet zudem Schutz vor Erdrutschen. Edy Epp erklärt: "Auf einer Magerwiese gedeihen vor allem Pflanzen, die tief wurzeln." Sie befestigen den Boden und schützen ihn so vor Hangrutschen. Auch Lawinen wirkt das Wildheuen entgegen: Der Schnee kann sich auf der kurz geschnittenen Wiese besser setzen als auf langem, vermodertem Gras, auf dem er wie auf Seife talwärts rutscht. Das ist einer der Gründe, weshalb der Kanton Uri das Wildheuen mit einem Förderprogramm unterstützt.
Tradition mit vielen Vorteilen
Typisch schweizerisch
Über 80 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche sind Grasland. Oft kann die Fläche gar nicht anders genutzt werden – so auch die Plangge Römersbalmen ob Silenen.
Gut für die Tiere
90 Prozent des Futters für die Schweizer Kühe stammt aus der Schweiz. Das Wildheu ist besonders wertvoll, da es eine grosse Vielfalt von Pflanzen enthält.
Gut für die Umwelt
Das Grasland hat auch für das Klima eine wichtige Funktion: Gras bindet CO2, der Boden bindet freien Kohlenstoff. Alpweiden, die wenig bearbeitet werden, erfüllen diese Aufgabe besonders gut.
Auch die Steinböcke profitieren
Wildheuen hat im Kanton Uri eine lange Tradition. Früher, als es noch keine Helikopter gab, haben die Bauern das Heu in Tristen aufgeschichtet. Sie rammten dazu einen Stamm in den Boden und pressten das Heu rund herum an, sodass ein kompakter Freiluft-Heustock entstand. Im Winter brachen die Bauern das Heu in grossen Batzen heraus und schleiften diese über den Schnee ins Tal. "Ein paar solcher Tristen bauen wir heute noch", sagt Edy Epp. Nicht mehr für die Bauern. Sondern für die Steinböcke. Auch sie freuen sich über das würzige, nahrhafte Winterfutter.